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View Full Version : Weltgeschichte der Sklaverei



The Lawspeaker
02-27-2010, 01:19 PM
Weltgeschichte der Sklaverei (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2010-08/artikel-2010-08-weltgeschichte-der-sklaverei.html)

Seit dem Mittelalter wurden fünfzig Millionen Afrikaner versklavt. Hauptsächlich von islamischen Eroberern und Staaten. Erst die europäischen Siedler setzten dem brutalen Treiben ein Ende. Der deutsche Historiker Egon Flaig spricht von «humanitärem Kolonialismus».

Gar so finster war Europas Mittelalter doch nicht: Vor tausend Jahren waren die Territorien nördlich und westlich der Alpen die einzige Region auf der Welt, in der es keine Sklaven gab. Adlige Güter wurden hier von Bauern bewirtschaftet, die in unterschiedlichen Stufen abhängig und unfrei waren. An die Stelle der Sklaverei trat die Leibeigenschaft. Anders als Sklaven gehörten Leibeigene zur Gesellschaft und fristeten, zwar am unteren Ende der sozialen Leiter, ein halbwegs menschenwürdiges Dasein. Niemand durfte sie verkaufen oder verschleppen. Als die Normannen 1066 England eroberten, unterdrückten sie dort die Reste der Sklaverei rigoros. Im «Sachsenspiegel», dem Gesetzeswerk des deutschen Mittelalters, wurden Mitte des 13. Jahrhunderts sowohl Leibeigenschaft als auch Sklaverei verworfen. Frankreichs König Philipp der Schöne schenkte 1299 allen Leibeigenen auf seinen Krongütern die Freiheit, weil «jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts frei sein muss». Da war es schon, das «natürliche Recht auf Freiheit» – fast 500 Jahre vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, mitten im sogenannten finsteren Mittelalter.

Stadtluft macht frei

Das ist eine von vielen Einsichten, die der Rostocker Historiker Egon Flaig in seiner «Weltgeschichte der Sklaverei» liefert. Von Hause aus Althistoriker, kennt er die antike und spätantike Welt mit ihren griechischen und römischen Autoren bis ins Detail. Es ist ein Erlebnis, bei ihm nachzulesen, wie Griechen, Römer und Byzantiner mit ihren Sklaven umgingen. Noch spannender wird es, wenn er mit an der antiken Staatenwelt geschultem Auge die islamische Welt, die frühe Neuzeit und schliesslich den transatlantischen Sklavenhandel in den Blick nimmt.
Entscheidend für das Verschwinden der Sklaverei in Nordwesteuropa waren ab dem 11. Jahrhundert die Städte. Wenn ein Unfreier die Grenzen einer Stadt überschritt, war er vor seinem Herrn sicher. Nach Ablauf eines Jahres war er frei, mancherorts sogar sofort. «Stadtluft macht frei» – die mittelalterlichen Städte verteidigten das Prinzip eisern. So entstanden Hunderte von Gemeinwesen, «in denen die persönliche Unfreiheit ausdrücklich verboten war», erinnert Flaig. Italienische Händler, die aus ihren Renaissancestädten Sklaven mit über die Alpen brachten, gerieten dort regelmässig in Konflikt mit dem Gesetz.
Der «schmale Sonderweg» Nordwesteuropas, wie Flaig es nennt, war alles andere als selbstverständlich. Überall sonst war zur gleichen Zeit die Sklaverei eine etablierte Institution. Wikinger und Ungarn, die im frühen Mittelalter regelmässig in Nordwesteuropa einfielen, waren Sklavenjäger. Ebenso Araber, die sich im 9. Jahrhundert in Südfrankreich und Italien festsetzten und sogar Rom belagerten. Vom süditalienischen Bari aus fuhren regelmässig Schiffe mit europäischen Sklaven nach Tunis. Die Ungarn verschifften ihre Beute über die Donau und das Schwarze Meer zu den Sklavenmärkten des Orients. Der grösste Sklavenmarkt in Europa war al-Andalus, das arabisch besetzte Spanien – angeblich ein Hort der Liberalität und des multireligiösen Miteinanders. Ein Mythos, die historische Realität war anders. Um ein Haar, meint Flaig, wäre auch Nordwesteuropa zum Sklavenlieferanten für die islamische Welt geworden – so wie Afrika und wohl mit einem ähnlichen Schicksal. Auf dem Lechfeld hat Otto der Grosse es 955 mit seinem Sieg über die Ungarn verhindert.


Unersättlicher Sklavenhunger

Im Orient ist die Sklaverei durch Keilschrifttexte schon für das 3. Jahrtausend vor Christus belegt. Im Ägypten der Pharaonen gab es Kaufsklaven und gebrandmarkte Staatssklaven, die auch verschenkt wurden. Im Alten Testament stehen gesetzliche Vorschriften über die Behandlung von Sklaven. Im Hause des Odysseus, berichtet Homer, gab es fünfzig Sklavinnen. Dreissig männliche Sklaven arbeiteten auf den Weiden. In Athen führten die Siege über das Perserreich zu einem grossen Zustrom von Sklaven. Es konnte ihnen unter Umständen recht gut gehen: Haussklaven wurden in die Familiengemeinschaft aufgenommen. Gutausgebildete Sklaven waren wertvoll und wurden mit grossem Gewinn an Handwerksbetriebe vermietet. Fürchterlich erging es dagegen 20 000 Sklaven in Athens Bergwerken. Antike Bergwerke, weiss Flaig, waren immer mörderische Strafanstalten. War die attische Demokratie auf die Sklaverei angewiesen, wie etwa Marxisten gerne behaupten? Jein, lautet die Antwort des Althistorikers. Die basisdemokratische Mitwirkung von mehreren tausend Bürgern in Volksversammlungen, Gerichtshöfen und Ausschüssen verschlang tatsächlich viel freie Zeit, die die Athener ohne ihre Sklaven nicht gehabt hätten. Doch die griechische Sklaverei war nicht schlimmer als andere, meint Flaig. «Und dennoch brachten andere Kulturen weder die Demokratie hervor noch eine zivile Freiheitsideologie, die der griechischen vergleichbar gewesen wäre.»


In Rom gewann die Sklaverei an Bedeutung, als die kriegerische Stadtrepublik im dritten vorchristlichen Jahrhundert zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum aufstieg. Zwischen 200 und 50 vor Christus gelangten mindestens 500 000 versklavte Kriegsgefangene nach Italien, etwa 4000 pro Jahr, bei einer Gesamtbevölkerung von ungefähr 4 Millionen. Besonders viele Sklaven machte Cäsar in Gallien. Doch Rom führte niemals Krieg, um zu versklaven, sondern immer aus politischen Gründen. Gegner, die sich schnell ergaben, entgingen der Versklavung. Flaig warnt davor, die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei für Rom zu überschätzen: Auch in der Kaiserzeit waren über fünfzig Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Italien freie Bauern.

Billig waren Sklaven in Rom nie: 200 vor Christus kostete ein Arbeitssklave etwa 500 und ein gebildeter Haussklave bis zu 1550 Denare – mehr als das Zehnfache des Jahressolds eines Legionärs. In der späten Kaiserzeit ging die Sklaverei stark zurück. Auf dem Land nahmen immer häufiger an die Scholle gebundene Pächter den Platz der Sklaven ein. Kaiserliche Gesetze schränkten die Verfügungsgewalt der Herren über ihre Sklaven stark ein. Sklaven wurden zu «Menschen, die unter der Herrschaft des römischen Volkes leben», so ein zeitgenössischer Autor. Der Unterschied zwischen Sklaverei und anderen Formen der Unfreiheit begann sich zu verwischen.

Den grossen Rückschritt brachte der Islam. In kürzester Zeit errichteten arabische Reiterheere ein Weltreich und zugleich, schreibt Flaig, «das grösste und langlebigste sklavistische System der Weltgeschichte». Mit dem grünen Banner des Propheten und der islamischen Scharia kam immer auch regelrechte Herdensklaverei. Islamische Eroberer versklavten viel mehr Menschen, als es die Römer je getan hatten. Allein in Spanien wurden Anfang des 8. Jahrhunderts innerhalb von nur zehn Jahren 150 000 Menschen versklavt. Im 11. Jahrhundert trieben afghanische Reiterheere Hunderttausende versklavte Hindus nach Zentralasien, wo sie gegen Pferde eingetauscht wurden. Das «Hindu-Kush»-Gebirge hat daher seinen Namen: Hindu-Tod.

Islamische Herrschaft beruhte auf der Sklaverei. Kalifen und Sultane hielten riesige stehende Heere aus Militärsklaven. Weil es in der theokratischen Despotie keine Mitwirkung von Aristokratie oder Bürgern gab, lag alle Bürokratie und Verwaltung in den Händen von Sklaven. In Bergwerken, Mühlen und Plantagen schufteten Hunderttausende Sklaven. Der Sklavenhunger des islamischen Weltreiches war unersättlich. Schon im 9. Jahrhundert brauchten die Kalifen von Bagdad etwa 600 000 Militärsklaven, sogenannte Mamelucken. Auf dem Balkan wurden ab dem 14. Jahrhundert bis zu einem Fünftel aller christlichen Kinder in die Sklaverei abgeführt, zwangsmuslimisiert und zu gefürchteten Janitscharenkriegern ausgebildet. Dies Schicksal muss in viereinhalb Jahrhunderten türkischer Balkanherrschaft Millionen Kinder getroffen haben, schätzt Flaig.

An den Rändern des islamischen Weltreiches führten Kalifen, Sultane, Emire und Moguln permanent Krieg, nur um Sklaven zu rauben. Frieden gab es nie. Im 10. Jahrhundert zog etwa der Kalif von Córdoba in 27 Jahren 25 Mal in den Dschihad – den «heiligen Krieg» – gegen die christlichen Gebiete Spaniens, zerstörend, massakrierend, versklavend. Am schlimmsten aber traf es Afrika. Nach und nach wurde der grössere Teil des Kontinents zu einer einzigen riesigen Sklavenlieferzone für die islamische Welt. Millionen schwarzafrikanische Sklaven wurden über den Indischen Ozean von Ostafrika nach Indien und bis nach China geführt. Noch Ende des 19. Jahrhunderts zogen lange Sklavenkarawanen durch die Sahara. Im Sudan und bis tief nach Schwarzafrika hinein entstanden islamisierte Räuberstaaten, die nur eine Aufgabe hatten: Sklavenbeschaffung. Die subsaharischen Sklavenjagden, schreibt Flaig, «waren häufig Genozide im strengen Sinne, da von vielen Ethnien buchstäblich niemand mehr übrig blieb».

Arabisierte Reiternomaden betrachteten Schwarzafrikaner als natürliches Sklavenreservoir. Die heutige blutige Vertreibung schwarzafrikanischer Sudanesen in Darfur durch berittene arabische Milizen ist ein Echo aus Jahrhunderten islamischer Sklavenjagd: Noch 1871 veranstaltete ein Sultan im heutigen Tschad zu Ehren eines Staatsgasts eine Sklavenhatz. Tausend Jahre islamische Herrschaft und permanente Versklavungskriege in immer grösseren Teilen Afrikas hatten fürchterliche Folgen für den Kontinent, kulturell, sozial, ökonomisch und politisch. Flaig: «Bis heute sind vielerorts die demografischen Entleerungen sichtbar sowie die Spuren des kulturellen Niedergangs bis hinunter auf ein pseudo-steinzeitliches Niveau.»

Ende des 15. Jahrhunderts klinkten sich die Portugiesen in den innerafrikanischen Sklavenhandel ein. Mit ihren ozeantauglichen Schiffen konnten sie die Sklaven schneller und verlustärmer transportieren und machten an der afrikanischen Westküste gute Geschäfte. 1500 nahm Portugal Brasilien in Besitz. Für die Arbeit auf der ständig wachsenden Zahl von Zuckerrohrplantagen brauchten portugiesische Siedler immer mehr Sklaven. In 300 Jahren kamen auf portugiesischen Schiffen 3,9 Millionen afrikanische Sklaven nach Brasilien – 41 Prozent aller nach Amerika verschleppten Afrikaner. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts brachten auch holländische, französische und englische Sklavenhändler afrikanische Sklaven in die Neue Welt, vor allem in die Karibik. Etwa 365 000 Sklaven wurden zwischen 1600 und 1825 nach Nordamerika transportiert. Weil es ihnen dort vergleichsweise gutging, wuchs ihre Zahl bis 1860 auf vier Millionen.


«Humanitärer Kolonialismus»

Der transatlantische Sklavenhandel ist gut erforscht. Von 1519 bis 1867 wurden in etwa 27 000 Sklaventransporten 11,06 Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt. Noch mehr fielen in freilich viel längerer Zeit zwischen 650 und 1920 islamischer Sklaverei zum Opfer: mindestens 17 Millionen. Rechnet man die Sklaven hinzu, die in den subsaharischen Sklavenjägerländern blieben, so wurden in 1300 Jahren insgesamt wohl über 50 Millionen Afrikaner versklavt. Noch nicht mitgerechnet ist dabei die grosse Zahl von Alten und Kindern, die in den unendlich vielen, fürchterlichen Sklavenrazzien niedergemetzelt wurden. Flaig glaubt, dass auch die düstersten Zahlen noch nach oben korrigiert werden müssen: Alleine die islamische Militärsklaverei erforderte über die Jahrhunderte einen Sklavenimport von weit über 20 Millionen Menschen. Gerne unterschlagen werden 1,2 Millionen Europäer, die Piraten aus Algier, Tunis und Tripolis zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert von den Küsten Spaniens, Frankreichs und vor allem Italiens raubten. Sogar bis in die Themsemündung und nach Island fuhren die nordafrikanischen Sklavenjäger. Vom ersten Tag des transatlantischen Sklavenhandels an führten die Europäer in der Alten wie in der Neuen Welt eine erregte Debatte über die Sklaverei. 1794 wurde sie von der französischen Nationalversammlung in allen französischen Territorien verboten. 1833 folgte das britische Parlament dem französischen Beispiel. Auf dem Wiener Kongress beschlossen 1815 die europäischen Monarchen, den Sklavenhandel zu unterbinden. Von da an machte die britische Marine Jagd auf Sklavenschiffe, blockierte die westafrikanische Küste und würgte den transatlantischen Sklavenhandel ab. Der jahrzehntelange Einsatz als maritimer Weltpolizist kostete London viel Geld.

In der islamischen Welt dagegen gab es nie eine Diskussion über die Sklaverei. Weil Sklaven im Koran vorkommen und auch der Prophet Sklaven hatte, war die Sklaverei über jeden Zweifel erhaben. Das Osmanische Reich wehrte sich gegen britischen Druck. Auf der arabischen Halbinsel drohten Aufstände, als über das Verbot der Sklaverei verhandelt wurde. Die Araber wurden denn auch vom halbherzigen Sklavenhandelsverbot der Osmanen ausgenommen. Erst als die Briten 1882 Ägypten besetzten, endete der Sklavenhandel auch im Nahen Osten. In Afrika gingen die Versklavungskriege weiter, erfassten Zentralafrika und das Kongobecken. Arabische Sklaven- jäger erreichten die Grossen Seen. In Europa drängten darum die Abolitionisten – die Gegner der Sklaverei – darauf, die Sklavenjagden in Afrika gewaltsam zu beenden. Nichts anderes, meint Flaig, war der Ausgangspunkt der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika.

Tatsächlich konnten die europäischen Kolonialmächte das gewaltsame Versklaven in Afrika fast völlig unterbinden. Flaig spricht darum vom «humanitären Kolonialismus» der Europäer in Afrika und wartet mit einer provokanten Schlussfolgerung auf: «Der europäische Kolonialismus [. . .] hat Afrika nach einer 1000-jährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden die Möglichkeit zu neuen Wegen eröffnet. Freilich unter kolonialer Aufsicht.» Wären die Europäer nicht in Afrika geblieben, so Flaig, wäre die Sklaverei sofort zurückgekehrt. Die starke These wird zu Diskussionen und Historiker-Debatten führen. Ein Rezensent der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit hat sich prompt über Flaigs Sicht auf den europäischen Kolonialismus empört. Allerdings ohne Argumente anzuführen. Die sind, bis jetzt jedenfalls, auf der Seite des Rostocker Althistorikers.


Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei. C. H. Beck, 2009. 238 S., Fr. 22.90

Botho Keppel ist Historiker und Journalist in München.