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View Full Version : Die Causa Sarrazin in der Retrospektive



Winterwolf
05-11-2011, 06:07 PM
„Geschichtszeichen“ Sarrazin und die Schwäche der Konservativen

Geschrieben von: Felix Menzel

Was bleibt von Thilo Sarrazin – jetzt, wo der Streit rund um sein Buch soweit erst einmal abgeschlossen ist? Der ehemalige Bundesbanker darf in der SPD verweilen, er hält weiterhin Vorträge und läßt sich von den Bürgern umjubeln, aber die politische Karawane hat neue Themen gefunden, kann Sarrazin ungestraft einen Rassisten nennen und die dringendsten Probleme Deutschlands wieder weit weg von sich schieben. Das alles klingt gerade angesichts der Euphorie unter Konservativen im letzten Sommer ernüchternd. Was also ist schief gelaufen oder war alles eine ganz normale Inszenierung?

Das Paradoxe des Falls Sarrazin ist, daß zwar seine Skandalisierung zu einem gravierenden Teil fehlgeschlagen ist, wodurch ein neues Paradigma der Ausländerpolitik in Deutschland eingeläutet wurde. Aber der kritische Bürger merkt davon wenig, weil es immer noch de facto verboten ist, den nächsten Schritt zu durchdenken. Mit Sarrazin ist die Vision einer multikulturellen Gesellschaft zerbrochen, jedoch bleibt durch seinen Rausschmiß bei der Bundesbank das Tabu bestehen, daß man dieses Scheitern mit allen notwendigen Konsequenzen nicht zur Sprache bringen darf.

Die politische Klasse hat sich im Laufe der Sarrazin-Debatte auf ein neues Zauberwort geeinigt, das jeder mittragen muß, der gehört werden will. Es handelt sich dabei um „Integration“. Auch Sarrazin teilt diesen Konsens der Integrationswilligen, die völlig verkennen, wie unmöglich es ist, einer millionenstarken Masse aus fremden Ländern ein neues System und eine neue Kultur schmackhaft zu machen.

Auch Merkel sagt, daß Multikulti gescheitert ist

Zwei Bemerkungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigen sehr deutlich, was in der Debatte Sarrazin geschehen ist. Merkel meint auf der einen Seite ohne Lektüre des Buches, Deutschland schafft sich ab sei „wenig hilfreich“. Auf der anderen Seite aber hat sie die inhaltliche Konsequenz aus der monatelangen öffentlichen Diskussion gezogen und im Oktober 2010 erklärt: „Multikulti ist absolut gescheitert.“

Diese Ambivalenz prägt die Skandalisierung von Sarrazin, die aufgrund der Meinungsmacht der über eine Million Buchkäufer und Sympathisanten nur zum Teil funktioniert hat. Inhaltlich hat der Skandal zu einer neuen Leitidee in der Ausländerpolitik geführt: Statt einem Konsens über „Multikulti“ besteht jetzt einer über das Allheilmittel „Integration“.

Und darüber hinaus? Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz ging in einer TV-Talkshow so weit, Sarrazins Buch und die Aufregung darum als eine „Art Geschichtszeichen“ zu titulieren. Dies begründete er damit, daß sich die Bürger nicht mehr von den heutigen „Jakobinern“ sowie „Moralbonzen und Oberlehrern“ der „Weltmacht Habermas“ das freie Wort verbieten lassen. Stimmt das nun?

Der Politologe Lazaros Miliopoulos von der Uni Mainz ist in einem klugen Aufsatz in dem kürzlich erschienenen Sammelband Freiheit und Zuwanderung als Spannungsverhältnis. Beiträge zur Sarrazin-Diskussion dieser Frage nachgegangen. Er hat dazu alle möglichen Gruppierungen, die pro Sarrazin sind, abgeklappert und ihr Potential eingeschätzt. Das Ergebnis:


Gruppierungen innerhalb der CDU, z.B. „Linkstrend stoppen“ sowie andere konservative Pressure Groups: „unbedeutend“

Alternative Medien aus dem konservativen, libertären bzw. islamkritischen Spektrum, z.B. Blaue Narzisse, Sezession, Junge Freiheit, Politically Incorrect u.a.: „unbedeutend“, deshalb verfrachtet Miliopoulos diese Aufzählung auch in eine Fußnote.

Wahrscheinlichkeit einer „Sarrazin-Partei“: von Medien „in die Welt gesetzt“ und somit zumindest in der öffentlichen Diskussion, aber Chancen gegen null

Chancen der Partei „Die Freiheit“ von René Stadtkewitz: wohl gar nicht wahrscheinlich

Rechtsschwenk der CDU: Dies sei – laut Miliopoulos – noch am wahrscheinlichsten, wenn diese sich bewußt werde, daß sie das bürgerliche Lager zusammenhalten muß. „Allerdings könnte es für eine glaubwürdige konservative Wende der CDU wiederum zu spät sein“, so der Politologe.


Zusammengefaßt sind also die Erfolgsaussichten äußerst dürftig. Dies liegt zum einen an den äußeren Rahmenbedingungen. Miliopoulos bringt es auf den Punkt, wenn er mit Panajotis Kondylis betont, daß der Begriff „Konservatismus“ nur noch dank „der polemischen Wucht seiner triumphierenden Widersacher“ bestehe.

Die Rahmenbedingungen für Konservative und Rechte seien in Deutschland mit seiner geschichtspolitischen Neurose einfach zu schlecht, um Erfolg haben zu können. Gerade deswegen könnte Sarrazin jedoch ein „Geschichtszeichen“ sein, weil er mit seiner SPD-Mitgliedschaft die Lagergrenzen aufsprengt und dadurch die Probleme (demographischer Niedergang, Bildungskatastrophe und Folgen der Masseneinwanderung) in den Vordergrund geraten könnten.

Ist Sarrazin bereit zu kämpfen?

Der Buchautor und Blogger Manfred Kleine-Hartlage mißt deshalb dem Kuhhandel zwischen Sarrazin und seiner Partei eine so große Bedeutung bei, weil mit diesem abermals klar wird, daß der Bestseller-Autor keine Kämpfernatur ist, die sich an die Spitze einer politischen Bewegung setzen möchte.

„Dieser Mann ist es leid zu kämpfen. Wer so lange zum Establishment gehört hat, wird auf seine alten Tage nicht mehr zum Rebellen. Er will weiterhin dazugehören; deshalb hat er nach der halb ausgestreckten Versöhnungshand der SPD gegriffen und spielt nun in dem miesen Stück mit, zu dem die Regisseure unseres Polittheaters jetzt umschreiben, was einmal als packendes Drama begonnen hat“, so Kleine-Hartlage. „Die Sarrazin-Debatte mutet im Rückblick an wie eine typische Diskurs-Inszenierung Marke BRD: ein paar Wochen Geplapper, hektisch, hysterisch und folgenlos.“

Nun übersieht diese pessimistische Einschätzung, welche Verschiebungen es im Sprachgebrauch über die Ausländerpolitik gegeben hat. Die Grünen können froh sein, daß ihnen mit dem Reaktorunglück in Fukushima ein Super-Thema zugefallen ist, denn ihre multikulturellen Utopien sind nach Sarrazin selbst in der eigenen Partei weitestgehend ausgeträumt und verdammen sie dazu, in dieser Frage dem „Integrations“-Mainstream hinterherzurennen. Profilieren können sich die Grünen mit Ausländerfragen aber nicht mehr.

Ideologie oder pragmatische Sachthemen

Das könnten jedoch bei einer Mehrheit der Deutschen konservative bzw. rechte Gruppierungen schaffen, sollte es ihnen gelingen, das zwangsläufige Scheitern von Multikulti und des Integrationskonzepts plausibel zu machen. Die politische Welt ordnet sich nicht mehr nach ideologischen Lagern. Insofern sind auch alle Grabenkämpfe zwischen links, der Mitte und rechts vergebene Zeit und Kraft. Die einzige Chance bei den verbliebenen Bürgern mit gesundem Menschenverstand zu punkten, ist die populäre Aufbereitung und Durchdringung von Sachthemen.

Winterwolf
05-12-2011, 08:50 AM
Quelle: http://www.blauenarzisse.de/index.php/gesichtet/2509-geschichtszeichen-sarrazin-und-die-schwaeche-der-konservativen