EUGEN VON ENGELHARDT
(1899-1948)

Norbert Randow

Über den Verfasser des Buches „Weißruthenien” liegt bisher nur wenig gedrucktes Material vor. Nachgewiesen ist in der deutschen Literatur (”Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960.” Köln-Wien 1970) lediglich ein Nachruf von Axel de Vries („Baltische Briefe. Mitteilungen für die Flüchtlinge aus Estland und Lettland”, Nr. 1 (6), Ende April 1949):

"Eugen von Engelhardt

Der erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur in der Entwicklung der Einzelpersönlichkeit von uns Balten. Es gab bis dahin unter uns eine ganze Reihe wirklicher Männer, überragender Persönlichkeiten, bei denen Körper und Seele aus einem Guß hervorgegangen schienen, die in Charakter, Haltung und oft auch körperlicher Größe mächtigen Eichen glichen, die weit über den Durchschnitt gewöhnlicher Menschen hervorragten. Wenn im Wort ‚Original‘ oft etwas Abseitiges liegt, so waren diese Persönlichkeiten mit Abstrich dieses Abwegigen wirkliche ‚Originale‘, im Sinne der Einmaligkeit und Besonderheit ihrer Bedeutung.

Aber auch in unserer Zeit hat es noch solche Menschen gegeben. Vielleicht nicht so stark geprägte, weil die Umwelt eine andere geworden war, aber doch noch getragen von den formenden Kräften eines weiten Raumes, einer inneren Freiheit und Unabhängigkeit und der umfassenden Betrachtungsweise der Welt, die so bezeichnend gerade für die großen Gelehrten aus unserem Stamme gewesen ist.

Ein solcher Mann war Eugen Baron Engelhardt, der kürzlich verstorben ist. Ich sehe ihn noch vor mir, mit seiner schlanken Gestalt, mit seinem kühnen Profil des schmalen Kopfes, im weißen Tarnhemd mit dem Karabiner auf der Schulter, wie er mit dem sicheren Instinkt eines leidenschaftlichen Jägers und der Ruhe des tapferen Mannes den Einsatz seiner von ihm selbst aufgestellten, weit über hundert Mann umfassenden Forstschutzgruppe im Osten leitete. Wer ihn so sah, konnte glauben, er sei ein alter kriegserfahrener Landsknecht, der seinen Haufen mit harter Hand formt und führt. Wer aber so dachte, wurde überrascht, wenn er erfuhr, daß Engelhardt eine fein differenzierte, hochbegabte Persönlichkeit war, über eine große Weltkenntnis verfügte, noch sehr viel weiter herumgekommen war, als dies allgemein der Fall ist, und zudem ein Schriftsteller von beachtlichem Können war. Dabei war er vor allem ein Mann, ein wirklicher Mann, in dieser Zeit der halben Charaktere, auf den man sich bis ins Letzte verlassen konnte. Seine Kenntnis des Ostens war eine umfassende und tiefgreifende. Sein Buch über Weißrußland ist wohl das aufschlußreichste, welches in deutscher Sprache über dieses große Gebiet erschienen ist. Der russische Schriftsteller Pilnjak hat in einer seiner Novellen, die die russische Revolution 1917/18 zum Vorwurf hatte, in unvergleichlicher Weise die letzten Tage eines russischen Gutsbesitzers geschildert, der von der Flut der Mittelmäßigkeit erdrückt wird. Pilnjak vergleicht ihn mit einem Falken, dem Herren der Lüfte.

Ein solcher Mensch war Engelhardt. nur in der Weite des Ostens konnte er aufwachsen, so wie er war, und nur in der Weite des Ostens konnte er wirklich leben.

A. de Vries"

Sehr viel ausführlicher ist der in der weißruthenischen Emigrantenzeitung „Bac’kauščyna” bereits am 26. Dezember 1948 erschienene Nachruf von V. Maksimovič, der hier in deutscher Übersetzung ebenfalls folgen mag, da er sehr viel mehr faktisches Material, besonders über Engelhardts Schicksal nach dem zweiten Weltkrieg enthält und zugleich die Wertschätzung erkennen läßt, die ihm seitens der Weißrussen entgegengebracht wurde:

"Eugen von Engelhardt

Am 7. November 1948 beendete der hervorragende Gelehrte, der begabte Schriftsteller und große Freund des weißrussischen Volkes Eugen von Engelhardt nach langjähriger schwerer Krankheit im Sanatorium von Simbach in Bayern sein arbeitsreiches Leben.

Engelhardt stammte aus einem alten deutschen Geschlecht, das bereits seit 300 Jahren im weißrussischen Dünagebiet ansässig war. Dort hatte er als Knabe weißrussische Bauernkinder der Gegend als Spielgefährten. Später, als leidenschaftlicher Jäger, streifte er zusammen mit weißrussischen Waldhütern durch die umliegenden Wälder und Dickichte des Dünagebietes. Von daher kannte und liebte Engelhardt von Kindheit an das weißrussische Volk, seine Sprache und seine Bräuche.

Diese gefühlsmäßige Bindung, die sich bei Engelhardt bereits in jungen Jahren einstellte, war jenes Hauptmotiv, das ihn später zu seiner geduldigen und beharrlichen wissenschaftlichen Erforschung Weißrußlands und zu seinen Übersetzungen weißrussischer Werke ins Deutsche anspornte.

Wenn Engelhardt mit den Fragen der weißrussischen politischen Wiedergeburt auch bereits während des ersten Weltkrieges in Berührung kam, so begann er mit dem systematischen Studium der weißrussischen Geschichte, Geographie, Wirtschaft und Literatur doch erst in den dreißiger Jahren, nach seiner Rückkehr aus Australien.

Mit der Anhäufung von Materialien, Exzerpten und Notizen entstand bei Engelhardt langsam der Gedanke und die Ambition, ein gründliches und zudem in der deutschen wissenschaftlichen Literatur fehlendes mehrbändiges Werk zu schaffen - eine Monographie über Weißrußland und das weißrussische Volk, ein Werk, das ein informatives Handbuch für jeden sein sollte, der sich näher mit den Fragen der Weißrussistik befassen wollte.

Dazu schrieb er - und berührte damit eine charakteristische und typische deutsche Erscheinung -, daß die deutsche Wissenschaft und Literatur umfangreiche Werke über irgendwelche Kannibalenstämme in fernen Ozeanen oder über bereits seit Jahrtausenden ausgestorbene Völker besitze, aber so gut wie nichts über das ihm seit geschichtlichen Zeiten nahe, ja benachbart lebende weißrussische Millionenvolk.

Diese Lücke der deutschen Wissenschaft war Engelhardt bestrebt auszufüllen, und mit der ganzen ihm eigenen deutschen Akkuratesse und Geduld machte er sich an die Sammlung des wissenschaftlichen Materials.

1940 erschien eine erste große Studie von ihm über Weißrußland in dem Buch „Der nahe Osten”. Schon in dieser Arbeit offenbarte sich die ganze Breite und Gründlichkeit, mit der Engelhardt an seine selbstgestellte wissenschaftliche Aufgabe heranging.

Der Krieg war bereits in vollem Gange. Für ruhige, systematische Studien gab es keine angemessenen Voraussetzungen mehr. Engelhardt wurde zur Wehrmacht eingezogen. Die begonnene Arbeit mußte auf später verschoben werden, obwohl bereits Materialien für mehrere Bände zusammengetragen waren. Inzwischen war die weißrussische Frage durch den Gang der politischen Ereignisse außerordentlich aktuell geworden, und Engelhardt erhielt das Angebot, seine Arbeit in dem vorliegenden „Rohzustand” drucken zu lassen, ohne auf eingehende Umarbeitung und Vervollständigung zu warten. So erschien sein Buch „Weißruthenien” (Eugen Freiherr von Engelhardt, Weißruthenien, Volk und Land. Berlin 1943. 358 Seiten.).

Dieses Buch enthält nur einen Teil des von Engelhardt gesammelten Materials in kompilativer Form, ohne eingehende Bearbeitung der einzelnen Abschnitte. Nach dem Kriege, so hatte sich der Autor vorgenommen, wollte er die ihm am Herzen liegende Arbeit in einer anderen, vervollständigten, mehrbändigen Ausgabe herausgeben. Als zweiter Teil sollte noch während des Krieges ein Band mit Illustrationen erscheinen. Dieser Band war bereits in Druck gegeben, wurde aber unglücklicherweise durch die Kriegsereignisse zusammen mit der Druckerei, die ebenfalls zerstört wurde, vernichtet.

Das Buch „Weißruthenien” von Engelhardt enthält eine gewaltige Fülle von Daten aus der Geschichte, Geographie, Wirtschaft und Kultur Weißrußlands. Besonders wertvoll sind Hunderte von wörtlich zitierten Quellen, was es einem jeden ungemein erleichtert, seine Kenntnisse auf jedem gewünschten Gebiet zu vertiefen. Mit besonderer Hingabe hat Engelhardt den Abschnitt über Sitten und Gebräuche in Weißrußland geschrieben, offensichtlich standen dabei eigene Erlebnisse und Erinnerungen Pate.

Diese Arbeit, eilig in Druck gegeben, entbehrt nicht einiger Ungenauigkeiten und Fehler, besonders wo es um die Beschreibung unserer südwestlichen Grenze (im Palessje) geht. Diese Fehler hat Engelhardt sehr bedauert und er nahm sich vor, sie in der zweiten Ausgabe seiner Arbeit zu korrigieren. Dazu aber ließ ihm seine schwere Brustkrankheit leider weder Zeit mehr noch Kräfte.

Seit Kriegsende befand sich Engelhardt in einem Sanatorium. Die erbarmungslose Krankheit zehrte langsam aber konsequent seine Kräfte auf. Alle Kuren erwiesen sich als erfolglos. Unter solchen Bedingungen war es ihm unmöglich, an der Vollendung seiner Monographie über Weißrußland zu arbeiten, um so mehr als alle gesammelten Materialien und Notizen während des Krieges verlorengegangen waren.

Aber auch auf dem Krankenlager im Sanatorium war Engelhardt bemüht, dem Land seiner Kindheit einen letzten Tribut zu zollen. Da er neben hervorragenden wissenschaftlichen Fähigkeiten auch über ein nicht geringes literarisches Talent verfügte, machte er sich nunmehr an die Übersetzung hervorragender Werke der weißrussischen Literatur in Vers und Prosa.

Es ist kein Wunder, daß Maxim Bahdanowitsch ihm am nächsten stand - das gleiche tragische Los, der gleiche tragische Tod des einen wie des anderen, die gleichen Erlebnisse und Gefühle angesichts des unabwendbaren nahen Endes fern von der teuren Heimaterde. So entstand das Bändchen mit Übersetzungen „Weißruthenische Heimatlyrik von Maxim Bahdanowitsch” (im Druck). Engelhardt übersetzte ebenfalls Bahdanowitschs „Apokryphe”, deren in eine untadelige Form gekleideter Gehalt sein Herz berührt hatte.

Er war auch damit beschäftigt, einen Band weißrussischer Erzählungen in deutscher Übersetzung zum Druck vorzubereiten. Der erbarmungslose und vorzeitige Tod ereilte ihn während der Arbeit an der Übersetzung der besten Werke unseres prophetischen Sängers Kupala.

Mit Engelhardt ging ein ausgezeichneter Gelehrter und Dichter sowie ein großer Freund der weißrussischen Sache in die Ewigkeit. Sein Buch ‚Weißruthenien‘ wird noch auf lange Jahre hinaus ein unersetzliches Handbuch und Quellenwerk bleiben, in deutscher Sprache jedem Politiker und Wissenschaftler der Welt zugänglich. Mit seinem Hinscheiden haben sich die spärlichen Reihen der westeuropäischen Kenner der weißrussischen Sache empfindlich gelichtet.

Deshalb ist dieser Verlust so schmerzlich für uns, und so neigt heute vor dem frischen Grab jeder Weißrusse ehrfurchtsvoll und in großer Trauer sein Haupt.

W. Maximowitsch."


Beide Nachrufe sparen aus Engelhardts Lebenslauf aus, worüber er selbst im Vorwort zu seinem Buch „Weißruthenien” Auskunft gibt.

Als Sohn eines baltendeutschen Gutsbesitzers auf dem Gut Schönheyden, etwa 20 km südöstlich von Dünaburg (lettisch: Daugavpils, russisch: Dwinsk) aufgewachsen, trat er nach der Besetzung der bis zum ersten Weltkrieg zum russischen Reich gehörenden Stadt Riga durch deutsche Truppen von der Schulbank weg, wie er schreibt, als Kriegsfreiwilliger in das deutsche Heer ein. Weiter heißt es bei ihm: „Aufgrund meiner Sprach- und Landeskenntnisse wurde ich im Herbst 1918 bei einem Sonderstabe in Minsk und Orscha eingesetzt. Hier kam ich zum ersten Male mit der weißruthenischen Frage in Berührung und lernte die Kerngebiete des weißruthenischen Volkes und Landes kennen. Später, während der Winterkämpfe der Baltischen Landeswehr gegen die Rote Armee im Jahre 1920, hatten wir viele Wintermonate in weißruthenischen Bauerndörfern Lettgallens gelegen. Inmitten der Bauernfamilien, bei denen wir in engen Holzhäusern einquartiert waren, hatte ich wiederum gute Gelegenheit, dieses Volk, seinen Familiensinn, seine Liebe zur Scholle kennenzulernen.”

Über die Kämpfe der Baltischen Landeswehr gab Engelhardt 1938 in Berlin ein Buch unter dem Titel „Der Ritt nach Riga. Aus den Kämpfen der Baltischen Landeswehr gegen die Rote Armee 1918-1920” heraus, das im ersten Teil die Erinnerungen seines Vaters Wilhelm von Engelhardt (1862-1920) enthält und im zweiten Teil einen von ihm selbst verfaßten Abriß über „Das Schicksal der Kavallerie-Abteilung Engelhardt im Rahmen der Kämpfe der Baltischen Landeswehr gegen die Rote Armee 1918-1920”.

Aus heutiger Sicht war Eugen von Engelhardt eine außerordentlich widersprüchliche Persönlichkeit. Nach der Beendigung der Kämpfe und der Etablierung der drei selbständigen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen blieb Engelhardt als Landwirt auf dem durch Landenteignung seitens des lettischen Staates sehr zusammengeschmolzenen Hof in Schönheyden, den er mit Hilfe weißrussischer Landarbeiter wieder hochbrachte. Ende der zwanziger Jahre hielt er sich längere Zeit in Australien auf. Die wenig deutschfreundliche Politik der lettischen Ulmanis-Regierung trug dazu bei, daß er, national-konservativ geprägt, 1931 Mitglied der NSDAP wurde, weshalb er 1934 aus Lettland ausgewiesen wurde. Er ließ sich in Berlin nieder, wo ihm der Aufbau des „Instituts zum Studium der Judenfrage” übertragen wurde. Hier befaßte er sich vor allem mit dem Anteil von Juden am russischen Bolschewismus. Sein Hauptinteresse aber galt dem Studium Weißrußlands, als dessen erstes Ergebnis er den in Maximowitschs Nekrolog erwähnten Aufsatz „Die Weißrussen und die Vielvölkerecke von Augustowo-Wystiten” verfaßte, der zusammen mit einer Studie von Franz Pauser über „Die Deutschen im ukrainischen Volksboden. Eine geschichtlich-siedlungsmäßige Übersicht” unter dem gemeinsamen Titel „Aus dem nahen Osten. Zwei Aufsätze mit 10 Karten und 20 Abbildungen” 1940 als Privatdruck des Instituts für Grenz- und Auslandsstudien in Berlin erschien. Während des zweiten Weltkrieges war Engelhardt im besetzten Weißrußland als Forstschützer eingesetzt, wo er sich, wie die Erinnerungen Jan Žamojcins belegen, der Achtung und Zuneigung seitens der Bevölkerung erfreute. Wie stark seine Achtung und Zuneigung für die Weißrussen war, möge hier nur durch ein einziges Zitat aus seinem „Weißruthenien”-Buch gezeigt werden. Dabei darf man nicht vergessen, daß das Buch 1943 erschien, als die nationalsozialistische „Untermenschen”-Doktrin in Bezug auf die slawischen Völker immer größere Ausmaße annahm. Engelhardts Buch hatte, wie er im Vorwort schreibt, „neben dem vornehmlich informatorischen Zweck noch einen weiteren und höheren. Das weißruthenische Volk ist, materiell genommen, ein armes Volk. Es besitzt aber einen Schatz, der mehr wert ist als Gold und den leider nur wenige Völker Europas und der übrigen Welt besitzen oder sich bis auf den heutigen zu bewahren verstanden haben, das ist - ein schlichtes, einfältiges, mitfühlendes Herz. Im letzten Jahrtausend ist dieses seiner Denkungsart und sozialen Struktur nach bäuerlichste Volk Europas von der Vorsehung wahrlich stiefmütterlich behandelt worden. Es gibt ein sehr hübsches weißruthenisches Sprichwort, das die ganze Hoffnung dieses leidgeprüften Volkes auf eine glücklichere Zukunft zum Ausdruck bringt. Es lautet: ‘Zaglanje Slontze i v nasche Akontze’, d.h. ‘Einst wird die Sonne auch in unser Fensterlein scheinen!’ Möge dieses Buch ein bescheidener Beitrag dazu sein, daß diesem kleinen Nachbarvolk endlich einmal, nach so vielen Jahrhunderten, eine bessere und glücklichere Zukunft beschieden sei und es seinen wohlverdienten Platz an der Sonne erringe.”

Engelhardts „Weißruthenien”-Buch, aus dem im folgenden einige Kapitel abgedruckt werden (mit ganz gerinfügigen Kürzungen, die die damals geforderte Kenntlichmachung jüdischer Protagonisten betreffen), ist bis heute das gründlichste und umfassendste Werk in deutscher Sprache über Weißrußland und das weißrussische Volk, über seine Geschichte, seine Sprache und Literatur, seine Wiedergeburt zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie über die geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Landes (letztere natürlich nur bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges).

NORBERT RANDOW
Der Text ist zu lang zu kopieren und einfügen. Folgt dem Link: http://kamunikat.fontel.net/www/czas.../02_randow.htm