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Wirtschaft
Abschottung gegenüber EU Wenn der türkische Protektionismus mal nicht nach hinten losgeht

Von Tobias Kaiser | Stand: 05.04.2018 | Lesedauer: 6 Minuten

Die türkische Regierung stärkt ihren Zugriff auf die Unternehmen im Land. Das Wachstum im vergangenen Jahr ist nur temporären Maßnahmen zu verdanken. Es fehlt an langfristigen Auslandsinvestitionen.

Quelle: WELT/Kevin Knauer
Autoplay Seit Jahren arbeiten die Türkei und EU-Länder in einer Zollunion zusammen. Jetzt errichtet Ankara neue Handelsschranken. Die deutsche Wirtschaft ist alarmiert. Grund zur Sorge haben aber vor allem türkische Firmen.

Deutsche Unternehmen waren mehr als hundert Jahre lang willkommen in der Türkei. Der Technologiekonzern Siemens beispielsweise ist seit 161 Jahren vor Ort. Als das damalige Osmanische Reich Mitte des 19. Jahrhunderts entschied, ein Telegrafensystem aufzubauen, bekam das deutsche Unternehmen Aufträge für den Ausbau. Wenige Jahrzehnte später verlegte der deutsche Großkonzern die ersten Telefonleitungen in Istanbul.

Heute sind mehr als 7000 deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv und haben dort fast 13 Milliarden Euro in Fabriken, Läden und Büros investiert. Allerdings: So willkommen wie in früheren Zeiten fühlen sie sich inzwischen nicht mehr. In den vergangenen Monaten habe sich das Klima gewandelt, berichten Wirtschaftsvertreter.


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Quelle: Infografik WELT Das liegt vor allem an der volatilen politischen Stimmung im Land. Immer noch gilt der Ausnahmezustand, der nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt wurde. Die Führung hat seitdem tausende Beamte entlassen oder sogar inhaftiert, die Macht des Parlaments beschnitten und selbst in privaten Unternehmen wurden Gewerkschaftsmitglieder unter Druck gesetzt und sogar entlassen.

„Das Ansehen der Türkei ist gesunken“

Die schwierige Lage verunsichert ausländische Unternehmen, die in der Regel großen Wert auf stabile Verhältnisse und Berechenbarkeit legen. „Das Ansehen der Türkei als Partnerland ist in Deutschland in den vergangenen Jahren gesunken“, schreiben die Berater der deutschen Außenhandelsförderung GTAI in einem aktuellen Lagebericht zur Türkei. Das unveröffentlichte Papier liegt der WELT-Redaktion vor. „Mehrere Missstände belasten das Verhältnis, allen voran die mangelnde Rechtstaatlichkeit im Land.“

Das ernüchternde Urteil der Agentur, deren Aufgabe es eigentlich auch ist, deutsche Firmen zu Investitionen im Ausland zu ermuntern, spiegelt sich in den aktuellen Statistiken wider. Nicht nur Urlauber aus Deutschland bleiben der Türkei fern; auch die Direktinvestitionen aus dem Ausland sind zurückgegangen – obwohl die türkische Wirtschaft kräftig wächst.

Vor allem kleine und mittlere Firmen zögern, in der Türkei zu investieren. „Die sensible politische Stimmung, die Ungewissheit über die Rechtssicherheit und die angespannte Sicherheitslage lassen viele deutsche Unternehmen derzeit zögern, den Schritt in den türkischen Markt zu gehen oder ihre dort bestehenden Geschäfte auszubauen“ – so beschreibt Franziska Schneider von der IHK Pfalz die Stimmungslage in den hiesigen Chefetagen.
Viele neue Regeln beim Verbraucherschutz

Den Exportunternehmen hierzulande macht zudem eine weitere Entwicklung der vergangenen Monate Sorgen: Die Erdogan-Führung hat in den vergangenen Monaten neue Handelsschranken hochgezogen, mit denen sie die die türkische Wirtschaft zunehmend von Konkurrenz aus dem Ausland abschirmt. Bei ausländischen Firmen sorgt diese jüngste Entwicklung für Unruhe.

Eigentlich verbindet seit mehr als 20 Jahren eine Zollunion die Türkei, Deutschland und andere EU-Staaten. Die Vereinbarungen zwischen der EU und der Türkei – ursprünglich als Übergangsabkommen bis zum Eintritt der Türkei in die EU gedacht – haben jahrelang funktioniert. Das habe sich geändert, heißt es in dem Papier von Germany Trade & Invest (GTAI): „Die Zollunion zwischen der EU und der Türkei sollte den Warenverkehr erleichtern. Stattdessen haben europäische Unternehmen immer öfter mit Einfuhrkontrollen, Zusatzzöllen und komplizierten Registrierungspflichten zu kämpfen.“

Tatsächlich kommen viele der neuen Handelshemmnisse als Regeln für den Verbraucher- oder Umweltschutz daher, berichten Branchenexperten. Die verschärften Regeln, die beispielsweise zusätzliche Tests und Prüfungen für den türkischen Markt vorsehen, können die Geschäfte mit türkischen Kunden erheblich beschweren. „Wenn es ganz dumm läuft, kann ein deutsches Schuhunternehmen schon mal drei Monate warten, ehe seine Ware in türkischen Geschäften zum Verkauf steht“, sagt Sofia Hempel von GTAI.
Europäische Prüfzertifikate plötzlich wertlos

Für die Verzögerungen sorgten vor allem zusätzliche Produktsicherheitstests, die ausländische Firmen in der Türkei bestehen müssen. Da nütze es beispielsweise nichts, dass die Schuhe die gleichen oder sehr ähnliche Kontrollen bereits in einem EU-akkreditierten Prüflabor durchlaufen hätten, um in der EU verkauft zu werden. Nein, die türkischen Zollbehörden verlangten stattdessen für den Nachweis bestimmter chemischer Substanzen Zertifikate einheimischer Institute.

Das macht es für deutsche Firmen nicht nur teurer, ihre Waren in der Türkei anzubieten, sondern auch aufwendiger und zeitraubender – und häufig vermutlich auch gar nicht mehr interessant. „Europäische Prüfzertifikate wurden jahrelang problemlos anerkannt“, sagt Felix Ebner vom Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie (textil+mode). Schließlich gelte in der Zollunion das Prinzip harmonisierter Rechtsvorschriften – bis dato also auch in der Türkei. „Doch auf einmal ändern die türkischen Behörden ihre Vorschriften und Praxis“, sagt Ebner.


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Quelle: Infografik WELT Dass nicht nur Textilunternehmen, sondern auch Hersteller anderer Branchen unter den immer strengeren Zertifizierungsvorschriften aus Ankara leiden, zeigt ein Bericht der EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström. „In den vergangenen Jahren hat die Türkei mehrere Handelshindernisse aufrechterhalten, die ihren Verpflichtungen im Rahmen der Zollunion zwischen der EU und der Türkei zuwiderlaufen, wie beispielsweise aufwendige Zollverfahren oder zusätzliche Zölle“, heißt es in dem Bericht. Betroffen seien demnach unter anderem Produzenten von Maschinen, Elektromotoren und -pumpen oder Medikamenten – Bereiche, die für deutsche Hersteller relevant sind.

Türkei ärgert sich über Ungleichbehandlung


Nicht nur die Einfuhrkontrollen belasten ausländische Unternehmen, die in die Türkei verkaufen, sondern auch die Zollpolitik. Sie sei in den vergangenen Monaten deutlich restriktiver geworden, berichten Wirtschaftsvertreter.

Ein Grund für den zunehmenden türkischen Protektionismus ist Ärger in Ankara über die Ungleichbehandlung in der Zollunion: Wenn die EU mit anderen Ländern wie zuletzt Kanada oder Südkorea Freihandelsabkommen schließt, muss die Türkei zwar ihre Grenzen für Waren aus diesen Volkswirtschaften öffnen. Die heimischen Exporteure profitieren aber nicht von einem einfacheren Marktzugang in Kanada oder Südkorea. Mit an den Verhandlungstisch darf Ankara ohnehin nicht.

Der Ärger ist verständlich; die protektionistischen Maßnahmen könnten für die Türkei allerdings zum Bumerang werden, wenn die EU ihrerseits ähnliche Maßnahmen ergreift. Denn Europa und Deutschland sind für die Türkei wirtschaftlich wichtiger als umgekehrt: So ist Deutschland der wichtigste Investor in der Türkei und deutsche Unternehmen machen knapp zehn Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen in dem Land aus.

Deutschland ist wichtiger für die Türkei als umgekehrt

Türkische Unternehmen sind hingegen trotz einiger spektakulärer Zukäufe in den vergangenen Jahren nur für weniger als 0,4 Prozent der Investitionen hierzulande verantwortlich. Beim Handel sieht es ähnlich aus: Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und für die EU als Ganzes gilt das allzumal.

Die EU müsste dabei nicht einmal zu Gegenmaßnahmen greifen. Die geplante Ausweitung der Zollunion auf den Agrar- und Dienstleistungssektor zu blockieren, wäre bereits schmerzhaft genug. Durch die Reform könnten sich Verkäufe von Agrarprodukten in die EU fast verdoppeln und die Dienstleistungsexporte sogar mehr als verfünffachen, hat das Münchener Ifo-Institut ausgerechnet. Darauf verzichten zu müssen, wäre teuer für türkische Unternehmen.