Wie man eine Stadt erzählt: Jürgen Manthey läßt Königsberg auferstehen
Simon Dach ist der Dichter der niederdeutschen Urfassung des "Ännchen von Tharau", das Johann Gottfried Herder dann ins Hochdeutsche übertragen hat. Daran äußern Germanisten heute kaum noch Zweifel. Daß Simon Dach einen Verfassungsurtext der Weltbürgerrepublik Königsberg verfaßt hat, stand schon immer fest. Es hat sich nur bislang niemand dafür interessiert. Der Text geht so, es ist die zweite Strophe seines "Liedes der Freundschaft":

Die Red' ist uns gegeben, Damit wir nicht allein Für uns nur sollen leben Und fern von Leuten sein; Wir sollen uns befragen Und sehn auf guten Rat, Das Leid einander klagen, So uns betreten hat. Gespräch, Geselligkeit, öffentlicher Gebrauch der Vernunft - davon lebt die Weltbürgerrepublik. Dach und seine Freunde, der Kriegsregistrator Georg Blum, der Hofgerichtssekretär Robert Robertin, der kurfürstliche Registrator Johann Fauljoch und der Domorganist Heinrich Albert, fanden sich vor 370 Jahren auf einer Insel zwischen zwei Armen des Flusses Pregel zu republikanischer Geselligkeit zusammen. Man muß sich das nicht allzu ernst vorstellen. Die Republik war eher ein - allerdings vergängliches - Paradiesgärtlein, von dem aus man, mit frisch gebrautem Bier gut versorgt, die vorüberziehenden Schiffe grüßen und der Sonne beim Untergehen zusehen konnte. "Königsberger Kürbishütte" nannte sich der Kreis. In ihm wurde jener Geist geselliger Vernunft gepflegt, der uns wieder begegnet in Kants Tischgesellschaft, in Kleists Reflexion über die "allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden" oder in dem Königsberger Handwerkerverein "Leseclub Kant", in dem Otto Braun, der spätere sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, heranwuchs, der das Bollwerk der Republik verteidigte, bis er der Gewalt weichen mußte.

Jürgen Manthey ist mit seinem Königsberg-Buch etwas Großartiges gelungen. Er hat jene Stadt, die von allen ehemaligen deutschen Städten die am vollständigsten Verlorene ist, neu geschaffen, in dem er nicht ihre physischen, sondern ihre geistigen Bausteine wieder aufeinandergesetzt hat, sodaß die Nachschöpfung nun herrlicher erscheint als das historische Original. Denn das mit der "Weltbürgerrepublik" ist natürlich ein bißchen übertrieben. Aber es macht nichts, weil es ein schöner Gedanke ist, der sich als Bauplan des geistigen Königsberg eignet. Näher als durch dieses Buch kann man der alten Stadt nicht kommen, wohl auch nicht, wenn man den Ort aufsucht, der heute Kaliningrad heißt.

Manthey reiht streng chronologisch ein Porträt bekannterer oder unbekannterer Persönlichkeiten, die in Königsberg gelebt oder gewirkt haben, an das andere. Eingestreut sind zusammenfassende historische Kapitel. Er beginnt mit der Gründung Königsbergs durch den Deutschen Ritterorden, verfolgt seinen erstaunlich eigenständigen und von historischen Stürmen nicht allzu sehr behelligten Weg und endet mit dem physischen Untergang der Stadt 1944/45, dem ein schleichendes geistiges Siechtum vorangegangen war. Über Jahrhunderte hinweg sucht er das Gespräch mit seinen Königsbergern. Gegen Zeit und Vergänglichkeit setzt er Vergegenwärtigung. Dazu sind Belesenheit, Inspiration und Darstellungskraft nötig, worüber Manthey in reichem Maße verfügt.

Schön an diesem Buch ist auch, daß nicht alles von Kant her geordnet wird, obwohl dessen Denkmal aus der geistigen Landschaft Königsbergs natürlich herausragt. Er war ja ein Meister der Geselligkeit, der Widerworte schätzte, von denen uns ausführlich Mitteilung gemacht wird, ob sie nun von Hamann oder Herder stammen. Und bevor wir weiter die Galerie Königsberger Philosophen abschreiten, machen wir Bekanntschaft mit dem abenteuerlichen Kapitän Joachim Nettelbeck, beobachten den Berliner Hof im Königsberger Exil, den Niedergang und den Wiederaufstieg Preußens. Kleist und E.T.A Hoffmann grüßen.

Je weiter wir ins 19. Jahrhundert kommen, desto politischer wird das Gespräch. Eduard von Simson, der Vater der Reichsverfassung von 1848, ist ein Königsberger Gewächs wie auch Johann Jacoby, der Star der Linksliberalen und Demokraten. Otto Braun wurde schon erwähnt, Hugo Haase, der Mitbegründer der USPD, muß noch genannt werden. Und der unglückliche Gustav Noske. Eine Pflanzstätte für Sozialdemokraten höchst unterschiedlichen Schlages war Königsberg neben allem anderen auch.

Warum entdeckt erst jetzt jemand Königsberg als einen Ort, an dem die besseren Möglichkeiten deutscher Geschichte greifbarer waren als anderswo? Es ist ein Vorhang im Gedächtnis heruntergegangen. Und es handelt sich dabei nicht nur um den Vernichtungsvorhang aus Feuer und Rauch. Der Kürbishütten-Geist der heiteren Geselligkeit war schon vorher verschwunden. Es ist verrückt: Nach 1945 hatte die ganze Nation Heimweh nach Ostpreußen, so schien es jedenfalls. Ostpreußische Schriftsteller feierten ein Leben fern aller Urbanität. Nur Hannah Arendt beharrte darauf, sie "komme immer noch aus Königsberg".

Nun also haben wir, dank Jürgen Manthey, Königsberg wieder. Vielleicht haben wir es überhaupt erst jetzt.

Jürgen Manthey: Königsberg. Hanser, München. 735 S., 29,90 EUR.